„Junge Frau! Ich hätte gern einen Schwarztee!“ säuselt eine freundliche Stimme. Es ist sehr viel los im Gastraum. Es ist kalt. Alle Sitzplätze sind belegt. Aber vor der Theke ist niemand zu sehen. „Junge Frau! Ich hätte gern einen Tee!“, hört man wieder eine Stimme und dann ein Lachen. Carola, die gemeinte „junge Frau“, Ende 60, seit etlichen Jahren ehrenamtliche Mitarbeiterin in der Bahnhofsmission, tritt hinter der Theke hervor und blinzelt um die Ecke. „Gustav! Einen Schwarzen, ja? Und ein Marmeladenbrot? Ach ja, Gustav, Sie wissen es ja wahrscheinlich, aber aktuell, wegen Weihnachten, haben wir einen besonderen Tee! Bratapfel-Tee. Setzen Sie sich doch schon mal hin. Wir bringen ihnen die Sachen.“

Carola konnte Gustav nicht sehen, weil Gustavs Rücken dermaßen kaputt ist, dass er komplett gebückt läuft. Während Carola das Brot schmiert und ein Kollege den Tee eingießt, hört man einen anderen Gast schimpfen. „Gustav! Du kannst deinen Krempel nicht einfach vor die Tür stellen!“„Das ist kein Krempel. Das kann man alles noch gebrauchen“, entgegnet Gustav, der nun vor seinem in vier kleine Teile geschnittenen Marmeladenbrot sitzt.Gustav ist den ganzen Tag in der Stadt unterwegs. Man sagt, er habe ein Haus in einer anderen Stadt. Man sagt, das Haus sei so mit Dingen zugestellt, dass dort für Gustav kein Platz sei.

Im Volksmund werden Menschen wie Gustav „Messies“ genannt: Menschen, die „zwangshorten“, ein zwanghaftes Verhalten, bei dem das übermäßige Ansammeln von mehr oder weniger wertlosen Gegenständen in dem eigenen Wohn- und Arbeitsumfeld im Vordergrund steht, verbunden mit der Unfähigkeit, sich von den Gegenständen wieder zu trennen und Ordnung zu halten.

Spricht man Gustav darauf an, wird der sonst aufgeschlossene alte Herr dünnhäutig und einsilbig. Wir zwingen ihn nicht darüber zu reden, weisen ihn ab und zu aber zurecht, dass er seine ganzen Sachen nicht überall abstellen darf. „Gustav, Sie müssen auch Platz für die anderen Gäste lassen.“

Gustav erzählt viel, weiß viele Freiburger Geschichten. Das kommt nicht von ungefähr: Die Freiburger Gastro-Szene kennt Gustav als den lieben, „schrulligen“ Typen, der für Veranstaltungen verschiedener Kneipen jahrelang Plakate in der Stadt verteilt hat. Keiner kann was Schlechtes über Gustav berichten.

So wie Gustav nicht erzählt, wie das mit dem Haus in der anderen Stadt ist, erzählt er auch nicht wirklich, wo er unterkommt, wenn er nicht in seinem Haus ist, in dem er offensichtlich nicht mehr leben kann und dort vermutlich auch nicht schläft.

Ich kenne Gustav seit vielen Jahren. Manchmal unterhalte ich mich mit ihm. Das ist mitunter herausfordernd, weil es mir wichtig ist, mit den Menschen wortwörtlich auf „Augenhöhe“ zu sprechen. Ich setze mich zu ihm an den Tisch, während er den heißen, wohl duftenden Weihnachtstee schlürft. „Gustav, brauchen Sie einen Schlafsack? Kommen Sie nachts unter? Wir haben Schlafsäcke da. Ich möchte, dass Sie einen mitnehmen. Ist jetzt sehr kalt draußen.“ – „Herr Spitczok. Ich komme klar. Einen Gustav haut nix um. Ich bin nicht tot zu kriegen, auch wenn das Leben sich Mühe gibt!“, sagt Gustav und tippt auf seinen Rücken. „Dann ist gut!“, sage ich. Was bleibt mir auch? „Ihr tolles Team und Sie machen das gut hier. Ich bin gern hier. Schon immer. Ihr schenkt mir Wärme, wenn ich die brauche. Ich nehm jetzt so einen Schlafsack, damit Ihre Leute und Sie sich weniger Sorgen um mich machen. Aber selbst wenn ich draußen bin, andere brauchen das eher! Ich komm klar.“

In dem Moment kommt die Marmeladen-Lieferung der Malteser und eh wir uns versehen, hat Gustav einen Korb voll Mirabellenmarmelade in den Händen und hilft in gewohnt gebücktem Gang beim Ausladen. „Jetzt helfe ich mal der Bahnhofsmission“, sagt er und schafft es bis knapp zur Eingangstür, wo ihm ein Freiwilliger im Sozialen Jahr den Korb abnimmt.

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